Die Familie der Viola da braccio
Genese und Werdegang
Wenngleich die Entstehung der Viola da gamba hinlänglich im Spanien des ausgehenden 15. Jahrhunderts belegt ist, fällt die Entscheidung über den genauen Herkunftsort des bedeutendsten Instrumentes der abendländischen Musik, der Violine, deshalb so schwer, weil erstens am Anfang seiner Geschichte genaue Quellen fehlen und das Instrument eine bunte Vielfalt an Namen bekam und zweitens, weil alle Nationen des Kontinentes gleichzeitig Anspruch darauf erheben, das Ursprungsland zu sein, der nur zum Teil begründet ist
Tatsache ist, daß die Violine fast zeitgleich mit der Viola da gamba, nämlich zwischen der Abenddämmerung des gotischen Zeitalters und dem Aufkommen der Renaissance entstand. Gesichert scheint, daß die Violine sich aus der mittelalterlichen Vielle oder Fidel – einem in ganz Europa verbreiteten Lieblingsinstrument der Spielmannszunft – in einem langen Prozeß entwickelte um den Erfordernissen der neuen Musik gerecht zu werden. In unverkennbar perfekter Form – allerdings mit nur drei Saiten – tritt die Viola da braccio (in allen drei noch heute üblichen Größen als Violine, Bratsche, Violoncello) in den Fresken von Gaudenzio Ferrari in Bergamo und Saronno (etwa 1535) zutage, was ein viel früheres Entstehungsdatum – spätestens wohl um 1500 – erahnen läßt. Offensichtlich wurde vielerorts an den Viellen und Fideln herumgebastelt: in Spanien, Füssen, Lyon und überall in Italien. Eine zuverlässige Quelle für die Frühgeschichte der Violine findet man in Vincenzo Galilei, dem Komponisten, Theoretiker und Musiker:
“Die ersten, die in Italien die Viola da braccio kannten, und dies vor den Spaniern, waren die Neapolitaner. In Spanien gibt es die älteste für die Viola geschriebene Musik, während man die ältesten Instrumente in Bologna, Brescia, Padua und Florenz hat. Von den ersten Zeiten anFFF war die Viola nie ein Instrument von einheitlicher Form und allgemeiner Verbreitung, sie machte unzählige Veränderungen durch, sowohl was die Form, als auch was die Zahl der Saiten und ihre Stimmung betrifft. Bei diesen Instrumenten traten erstmals die C-Ausnehmungen in Erscheinung und Ende des 15. und Anfang des 16. Jahrhunderts auch die Wölbung, zuerst in der Mitte der Decke, dann auch am Boden; mit und ohne Adern, aber ohne vorstehenden Rand und ohne Ecken im Umriß. Einige hatten eine Schnecke oder einen Kopf am Wirbelkasten, andere hatten statt dessen ein kreisförmiges Brettchen oder eines in Form eines Herzens. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts kamen Randüberstand und Ecken zur Entwicklung, in der Folge auch die Adern in den rückwärtigen Teilen und großgeschnittene f-Löcher, da die Schallöcher nicht mehr C-förmig waren.”
(Fronimo…, 1568; zitiert: Kolneder, S. 88)
Den Traktaten vom Anfang des 16. Jahrhunderts scheinen die kleinen Violen ohne Bünde gar kein fremder Begriff mehr zu sein: Virdung (1511) und Jambe de Fer (1556) verweisen sie in die gesellschaftlich niedrigen Bereiche der Tanz- und Unterhaltungsmusik; Agricola (1528) bezeugt hingegen, daß “jetzt will jeder damit umgehen”. Ab 1500 sind Violinisten faktisch allgegenwärtig: kaum ein Hof – von London bis Neapel – will auf die lebendigen, spritzigen, tänzerischen Strichen des Modeinstrumentes verzichten!
Als Erster erkennt der Enzyklopädist Marin Mersenne die inhärenten Qualitäten des neuen Instrumentes in seiner Mannigfaltigkeit. Er besingt die Violine in einem Lobhymnus wahrlich prophetischen Inhaltes, dessen Nachhall heute noch spürbar ist:
“Die Violine ist eines der einfachsten Instrumente, das man sich vorstellen kann, da es nur vier Saiten hat und keine Bünde auf dem Griffbrett (weshalb man alle Konsonanzen rein intonieren kann, genau wie die Singstimme). Man kann hinzufügen, daß ihr Klang eine größere Wirkung auf die Empfindungen des Zuhörers hat, als die Laute oder andere Saiteninstrumente, weil er viel lauter ist und aufgrund der großen Saitenspannung und der hohen Stimmlage besser trägt. Wer die 24 Violons du Roy [des Königs Elitenorchester] gehört hat, schwört, daß er niemals etwas so Entzückendes und Überwältigendes erlebte. Daher kommt es, daß dieses Instrument zum Tanzen das geeignetste ist, wie man bei den Balletten und überall sonst sieht. Zudem, die Schönheiten und die Nettigkeiten (gentillesses), die man auf ihr übt, sind so zahlreich, daß man der Violine vor allen anderen Instrumenten den Vorzug geben kann, weil die Striche ihres Bogens manchmal so entzückend sind, daß man kaum einen größeren Verdruß empfindet, als wenn man zu spielen aufhört.
Demnach scheint die Geige das perfekteste und ausgezeichnetste Instrument zu sein, sowohl wegen seiner vielfältigen Möglichkeiten der Diminution, Synkopen, Bindungen, Seufzer und der schönen Melodien als auch wegen der bewundernswerten Verzierungen, wie man sie bisher noch nie gehört hat. Außerdem hat die Geige den anderen Instrumenten voraus, daß sie neben Tierlauten auch die menschliche Stimme und verschiedene andere Instrumente wie die Orgel, Fidel, Cornamuse etc. nachahmen kann. Ebenso kann sie Trauer hervorrufen wie die Laute, anstacheln wie die Trompete und wer sie perfekt spielen kann, kann alles was ihm in den Sinn kommt, ausdrücken. Besonders wenn allerlei Trillerchen und Vibrato der linken Hand beigemischt werden, wird der Zuhörer gezwungen zuzugeben, die Violine sei der König der Instrumente”
(Marin Mersenne: Harmonie Universelle, 1636)